1. Kurze Objektbeschreibung
Der Fachwerkbau wurde laut Inschrift um 1577(i) als Wohn- und Werkhaus eines Gerbers errichtet. Die Traufseite gegen Süden liegt in unmittelbarer Nähe eines Seitenarmes der Mühlen-Ilse. Die Giebelseite ist nach Osten ausgerichtet. Der Bau nimmt eine Fläche von 9.80 m x 10.50 m ein. Zwei aufgehende Stockwerke mit Zwischengeschoss und ein abschließendes Satteldach bilden die Kubatur des Gerberhauses. Das Gerberhaus wird bereits 1877 bei Pastor Linke erwähnt. "Hart an der Ilse liegt ein altes Gerberhaus, an dem zwei kämpfende Löwen, von denen einer geflügelt ist, ein Schwan und zwei Männer am Gerberfasse mit Schabeisen abgebildet sind." (3) Der Bau wurde 2011 mit einem Schieferbehang verkleidet.Fassaden und Giebel:
Die Errichtung der Trauf- und Giebelseite erfolgte in Fachwerkbauweise. Für das Fachwerkgerüst wurden überwiegend Nadelhölzer verwendet. Die Ausfachung der Fassade, Rückfront und Giebel bestehen aus Stakenhölzern mit Strohlehmputz und jüngeren Gefachschließungen aus Lehmsteinen. Fassade und Giebel sind bis zum 1. Oberstock über einem umlaufenden Sandsteinsockel errichtet worden. Das obere Stockwerk und das Dachwerk wurden als in sich geschlossener Abbund errichtet. Eine Vorkragung des 2. Stockwerks wurde mit ca. 15 cm umgesetzt. Der Unterstock mit einem eingeschobenen Zwischengeschoss und das obere Stockwerk der Fassade und des Giebels sind in der Breite in 8 bzw. 7 Gefache gegliedert. Für die Fassade sind die bauzeitlichen Ständer in Reihe in der Achse der Deckenbalken in gleichmäßigen Gebindebreiten kennzeichnend. Der Unterstock wird durch zwei Riegellagen in der Höhe in drei Felder geteilt. In den Randgefachen steifen geschosshohe Streben die Konstruktion in Querrichtung aus. Die Ständer zapfen in Schwell und Rähm und sind im Schwellbereich mit einem Holznagel gesichert. Knaggen, in Deckenbalken und Ständer gezapft, sichern diese zusätzlich in ihrer Lage. Zur Verlängerung der Schwellen und Rähme fand die Blattverbindung Anwendung. In die Ständer genutete Brüstungsplatten und kleine Kopfbänder steifen den 2. Oberstock und das Giebeldreieck zusätzlich in Querrichtung aus. Oberhalb der Brüstungsplatten verläuft ein Brüstungslangriegel. Die Deckenbalken über den oberen Etagen spannen von Nord nach Süd.
Die südliche Fassade zeigt in ihrem oberen Stockwerk in den ersten drei Brüstungshölzern Flechtornamente und Fächerrosetten,
wobei diese die Ständer einbeziehen. Das vierte Brüstungsfeld ist mit zwei an einem Baum ruhenden Hirschen (einen Bullen und
einer Kuh) beschnitzt. Die liegenden Hirsche überkreuzen jeweils ihre rechten Beine als Ausdruck der Verbundenheit. Das fünfte
Brüstungsfeld zeigt eine Jagdszene. Dort ist ein Jäger mit Jagdhund im Kampf mit zwei Löwen dargestellt. Der eine Löwe springt
hoch und wird von der Lanze des Jägers getroffen, der andere kämpft am Boden mit dem Hund. Auch hier sind im Bildhintergrund
Bäume dargestellt.
Die östliche Giebelwand gliedert ein Riegel in der Höhe. Die Brüstungsplatten zeigen hier im ersten Feld einen Greif und
einen Löwen. Der Greif, ein Mischwesen aus Löwenkörper, Vogelfüßen, Flügeln und Adlerkopf ist dem Löwen gegenübergestellt.
Sie greifen sich gegenseitig an. Ihre jeweils rechte Tatze/Kralle ist im Kampf erhoben, das Maul aufgerissen und die Zunge
weit herausgestreckt.
Die zweite Brüstungsplatte verweist nicht nur im Wappen auf die Zunft der Gerber mit Holzbottich und Gerbmesser, sondern
auch mit dem Relief der zwei am Bottich stehenden Männer. Diese, einer mit Vollbart zum Betrachter blickend, tragen Bundhosen
in der Tracht der Renaissance. Mit langen Holzstäben werden vermutlich die Tierhäute in dem Bottich gewendet. Es stellt
vermutlich den Arbeitsvorgang des Gerbers am Äscher beim Entfernen der Haare von der Tierhaut dar. Rosetten und verschiedene
Dekorationen wie Sterne, Bandelwerk und stilisierte Blüten zieren die weiteren Brüstungsplatten.
Das Gerberhaus
Viele der nachgewiesenen Gerbereien lagen am Fuße der Mittelgebirge, wo Flüsse und Bäche das notwendige Wasser für den Gerbprozess lieferten, wie zum Beispiel im Elsaß (12). Oftmals, wie in Bamberg, Nürnberg, Rottenburg, Rostock und Reutlingen, wurden sie städtebaulich dort angesiedelt, wo der Fluss oder ein Seitenarm das Stadtgebiet verließen. Dies begründete sich zum einen durch die starke Verschmutzung des Wassers, die beim Säubern der Haut- und Fellreste entstand und andere wassertreibende Gewerke, wie die Wassermühlen, dessen Mühlräder vom Unrat blockiert wurden, behinderte. Zudem erleichterten kleinere Flussläufe oder Seitenarme dem Gerber das Arbeiten auf den Stegen und die Befestigung der Tierhaut an Pfählen (13). Zum anderen war die Geruchsbelästigung in den Gerbervierteln enorm, insbesondere durch den Verwesungsprozess der Häute. Deshalb wurden die Gerbereien in Vierteln am Stadtrand zusammengezogen oder auch teilweise außerhalb der Stadtmauern angesiedelt (14). Eine städtebauliche Aufwertung bis hin zum neuen Zentrum erhielt die Randlage des Gerberviertels an Markttagen mit Ständen und der feilgebotenen Ware (15).Abb. 10 Querschnitt aus: Zeichnung und Situation über Veränderungen im Wohnhaus des Kaufmanns Herrn El. Brauns, Voigteiplatz Nr. 26 zu Osterwieck (Stadt Osterwieck Archiv, Akte 23585 von 1886)
Eine weitere Bedingung für die Entwicklung von Gerbereiproduktionsstätten in größerem Umfang war die Nähe großer Eichholzwälder
zur Beschaffung der Lohe (16). Die Lohe wurde von der äußeren Rindenhaut des Baumstammes gewonnen. Den
höchsten Anteil an der
Gerbsäure enthielt ein Baum mit einem Alter von 16 Jahren. Der Abbau erfolgte durch Privatpersonen oder durch Zünfte. Die
Rinde des Eichenbaums wurde in Lohmühlen gemahlen, um die Lösbarkeit des Gerbstoffes im Wasser zu erhöhen. Die Zünfte regelten
die gemeinsame Nutzung der Lohmühlen und nahmen Umlagen für deren Unterhaltungskosten ein (17).
Der Produktionsablauf begann mit dem Kauf der Haut eines geschlachteten oder gejagten Tieres. Der Gerbprozess konnte sechs
Monate oder gar drei Jahre in Anspruch nehmen. Die Haut eines Tieres wurde mit Salz konserviert oder in kühlen Kellergewölben
gelagert. Anschließend erfolgte die Reinigung der an Pfählen im Wasser befestigten Häute (18). Danach
wurden Fleisch- und
Fettreste auf dem Schabebaum mit dem Schabeeisen gelöst. Zusätzlich konnten im Inneren des Hauses die Haarreste durch einen
Verwesungsprozess ausgelöst und entfernt werden, beispielsweise durch das Besprengen der Häute mit Urin (19).
Eine weitere
Möglichkeit bot sich dem Gerber durch das Einlegen der Haut in einen mit Kalkmilch oder Pottasche gefüllten Bottich, dem
Äscher. Die Häute wurden von Zeit zu Zeit umgeschichtet. Eine überwölbte Schwitzkammer diente demselben Prozess. Die Häute
wurden durch ein kleines Feuer erwärmt und somit der Verwesungsprozess eingeleitet (20). Das nochmalige
chaben auf dem Schabebaum
erwirkte die vollständige Reinigung. Diese Arbeitsvorgänge bedingten die starke Geruchbelästigung (21).
Anschließend in Gerbgruben,
ein bis zwei Meter in den Erdboden eingetieft, erfolgte der eigentliche Gerbprozess. Die Lohgruben wurden mit frischem Wasser
aus einem Brunnen und dem Gerbstoff bestückt.
Die Trocknung erfolgte zunächst auf Trockengerüsten, im Freien, dann an Stangen, an den Gerbhäusern befestigt, oder auf
auskragenden oder eingerückten Galerien (22). Hausbereiche, die mit der Lohbrühe in Verbindung standen,
waren zum Schutz verbrettert (23).
Zudem ist laut Cramer für Kaufbeuren, Schaffhausen und Nördlingen die Nutzung der Wehrgänge als Trocknungsort der Häute belegt
(24).
Ohne direkte Sonneneinstrahlung oder Regenbelastung wurde die Tierhaut schließlich auf dem Dachboden vollständig getrocknet.
Die Dächer waren mit Lüftungsöffnungen versehen. Diese konnten durch Schiebeläden geöffnet und geschlossen werden und
ermöglichten somit einen regulierten Trocknungsprozess. Auf dem Boden wurden die an den Stangen befestigten Häute auf
andere Stangen aufgelegt oder teilweise mit eisernen Nägeln an der Dachkonstruktion aufgehängt (25).
Die Belüftung konnte jedoch
auch durch große offene Gefache an der Giebelseite erfolgen. Durch Aufzüge mit Auslegern transportierte man die Häute zum
Dachgeschoss, meist auf des der Werkstatt abgewandten Front, wie es bei einigen Häusern in Nördlingen und Memmingen der Fall
ist (26). Nach der Trocknung wurde das Leder durch Walzen und Klopfen geglättet.
Das Gerberhaus in Osterwieck
Bei dem Gebäude Voigteiplatz 7 handelt es sich um das Haus eines Lohgerbers, dessen Tätigkeit nach den Untersuchungen von Johannes Cramer eine charakteristische Hausform entstehen ließ. Die Verarbeitung der großen Häute erforderte bestimmte Flächen für den Produktionsprozess, die auch heute noch am Bau ablesbar sind (27). Befanden sich im Unterstock die Werkstatträume und im Zwischengeschoss die Wohnräume, so konnte das obere Stockwerk der Trocknung oder dem Wohnen dienen.
Das Haus am Voigteiplatz, traufständig zum Seitenarm der Mühlen-Ilse ausgerichtet, war vermutlich nicht das einzige Wohn-
und Werkstatthaus eines Gerbers in diesem Stadtteil. Der angrenzende ältere Bau Voigteiplatz 6 zeigt im Dachgeschoss
langgestreckte, durch Klappläden schließbare Lüftungsluken, ein Hinweis auf die Nutzung des Dachbereichs zum Trocknen der
Felle. Auch das in unmittelbarer Nähe liegende ehemalige Diakonatshaus Hagen 45, damals Nr. 26, gehörte 1887 einem
Lohgerbermeister, Herrmann Wust (28). In dem beiliegenden Situationsplan
ist die Unterbringung der Weißgerberei in dem
Werkstattgebäude unmittelbar an der Mühlen-Ilse erkennbar.
Fand das Säubern der Felle im Seitenarm der Ilse statt, so lassen sich die weiteren Arbeitsprozesse in den Werkstatträumen
nicht mehr am Gebäude ablesen. Lediglich der massiv angefügte kleine Bau direkt am Bachlauf könnte auf eine ehemalige
Schwitzkammer hindeuten. Die Lohgruben befanden sich sicherlich eingetieft im Boden des Unterstockes. Die Trocknung der
Häute erfolgte im Dachraum. Ein historisches Foto vor Verkleidung des Hauses mit Blechplatten zeigt zwei große Fensteröffnungen
auf der unteren Dachebene, die die Belüftung ermöglichten. Die obere Dachebene besaß nochmals zwei kleinere Öffnungsluken.
An der Traufe unterstützten drei kleinere Schleppgauben die Luftzirkulation. Ein Kragarm mit Seilzug ermöglichte das
Transportieren der Häute.
Die bauzeitliche Dachkonstruktion, ein einfaches Sparrendach mit angeblatteten Kehlbalken ohne abschließenden Giebel nach
Westen, bot Fläche zur Aufhängung der Häute. Das westliche Giebelgebinde stößt an den älteren Giebel des Nachbarhauses.
Die insgesamt sieben Gebinde sind auf der nördlichen Seite durch Abbundzeichen gekennzeichnet. Die einfache Kehlbalkenlage
ist mit den Sparren durch Schwalbenschwanzblätter und Holznägel verbunden. Die Sparrenfüße zapfen mit einem Vorholz in die
Zerrbalken, den Firstpunkt verbindet ein Scherzapfen. Die Längsaussteifung des Daches besteht aus auf die Sparrenebene
genagelte Windrispen. Ein außermittiger Wechsel zwischen dem vierten und fünften Gebinde, in den die Kehlbalken einzapfen,
kennzeichnet den ehemaligen Standort eines Schlotes.
Weitere Arbeitsschritte wie das Falzen und Spalten, konnten auch in einem zur Straße gewandten Seitenflügel stattfinden
(29).
Auf einem Messbildfoto ist das nach dem Stadtbrand von 1884 mit Blechplatten verkleidete Haus mit einem Seitenflügel
dargestellt. Laufgänge mit großen Stangen entlang des Gebäudes dienten wohl zusätzlich als Trocknungsort.
Einblick in die frühere Raumteilung des Gebäudes ermöglichen ältere Bauanträge mit Zeichnungen. So erbaute 1879 Gottfried
Becker im südwestlichen Gebäude einen Backofen mit Schornstein (30).
Nur wenige Jahre später, 1886, beabsichtigte der Kaufmann August Braune denselben geschäftsbedingt wieder zu entfernen
(31).
Im Unterstock lag der Laden mit Backfläche. Im massiven überwölbten Backofen sollte die Küche untergebracht werden. Hierzu
mussten die Umfassungswände, das Gewölbe und der Schornstein des Ofens abgetragen und in die nördliche Außenwand ein Fenster
eingebrochen werden. Die damalige Trennwand zwischen Laden und Backfläche wurde nach Westen versetzt und der damalige Flur
zur Kammer umfunktioniert. Im darüber liegenden Zwischengeschoss und Oberstock waren weitere Küchen, Stuben und Kammern
(32).
Der Bau einer Fußgängerbrücke über die Mühlen-Ilse bildete den letzten Punkt der Auflistung der baulichen Maßnahmen
(33).
Quellen-, Dokumentations- und Literaturnachweis
Quellen:Archiv Stadt Osterwieck: Baukonsense Dokumentationen Literatur:
1. Schauer 1997 – Schauer, Hans-Hartmut; Die Fachwerkstadt Osterwieck. Verlag für Bauwesen. Berlin 1997
2. Grenser, Alfred: Zunft-Wappen und Handwerker-Insignien. Eine Heraldik der Künste und Gewerbe. Verlag von Wilhelm Rommel. Frankfurt am Main 1880
3. Lexikon der Kunst, (Hrsg:L. Alscher, G. Feist, P.H. Feist, K. Junghans, A. Langer, G. Meissner, H. Olbrich, K.-H. Otto, G. Strauss, H. Widhaas), Band II: G-Lh, VEB E.A. Seemann Verlag, Leipzig 1971
4. Bigalke, Hans-Günther: Geschnitzte Bilder und Figuren an Fachwerkhäusern In Deutschland 1450-1700. (Hrsg.: Kulturkreis Fachwerk im Celler Land e. V., Deutscher Kunstverlag
5. Linke, Franz August: Beschreibung der Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Osterwieck aus dem Jahre 1877, Archiv Osterwieck, Bestand Magistrat Osterwieck, 2.2169